Protzige Prognosen


„Ich zähle jetzt von drei an rückwärts, und wenn ich bei eins angekommen bin, wachen Sie auf und haben alles vergessen. Alles bis auf Ihren dringenden Ausreisewunsch. Drei … zwei … eins!“
Meyer öffnete die Augen, stand auf, ging zur Tür, und als ihm Otto schon den Rücken zugedreht hatte, sprang er auf ihn zu und nahm ihn in den Schwitzkasten: „Ha, das könnte Dir so passen, was, Otto! Aber Deine Tricks wirken bei mir nicht! Und jetzt raus mit der Sprache, sonst knallts!“ Wie gut, dass Meyer dem Prozentsatz der Bevölkerung angehörte, der nicht hypnotisierbar war. Endlich einmal ein geistiger Defekt, der zu etwas nutze war.
„Schon gut, schon gut, ganz ruhig“, brachte der große Otto gequält hervor, „keine Notwendigkeit, brutal zu werden. Lassen Sie mich doch bitte frei, sonst kann ich nicht mehr klar denken. Die Hypnose hätte wahrscheinlich sowieso nicht länger gewirkt, als Sie bis nach Hause gebraucht hätten, um Ihren Reisepass zu holen. In Mesmerisieren hatte ich immer ne Vier minus auf der Volkshochschule.“
„Na gut, aber keine Dummheiten, und alles, was ich wissen will, und zwar zackig!“, gab sich Meyer generös. Der Umklammerung entwunden ließ sich Otto auf sein Fauteuil sinken, emsig nach Luft schnappend.
„Also, wo finde ich Schmydzler?“, knurrte Meyer.
„Wo er jetzt ist, weiß ich nicht. Er kam vor ein paar Tagen nach der Spätvorstellung vorbei und machte einen ganz gehetzten Eindruck. Er wollte untertauchen, weil er nicht wusste, was die Zukunft für ihn bereit halten würde. War wohl in einer ziemlichen Klemme. Da hab ich ihm meine alte Volkshochschulkommilitonin Madame Olga empfohlen. Wenn jemand was über die Zukunft weiß, dann sie.“
„Und wo wohnt die Gute?“
„Warten Sie, ich hab hier irgendwo nen Flugzettel von ihr rumliegen …“ Otto wühlte in einem großen Haufen Altpapier, der auf einem Beistelltisch gewachsen war. „Ah, hier ist er. Bittesehr!“
Mit noch immer leicht zitternder Hand reichte Otto Meyer das Papier. Meyer steckte den Zettel ein, schob den Vorhang des Verhaus beiseite und verließ das Theater über einen Seiteneingang.

Madame Olga residierte im vierten Stock des dritten Hinterhofes eines zweitklassigen Altbaus; die erste Adresse für Wahrsagerinnen, dachte sich Meyer. Dies bedeutete jedoch auch, dass er sich vier Stockwerke voller Altbautreppenstufen hochschleppen musste, was ihm auch ohne einen Tag wie den verstrichenen in den Knochen zu haben auf die selbigen gegangen wäre. Nun denn! Als sein Gehirn nach einiger Zeit des nasslappigen Zusammengesunkenseins auf dem obersten Treppenabsatz wieder durchblutet wurde, und sich auch die beschwingt tanzenden schwarzen Pünktchen vor seinen Augen zurückzogen, warf er einen Blick auf das Klingelschild der Hellseherin: Es wurde geziert von einem Aufkleber aus der Mickymaus, auf dem Goofy in einer großen Sprechblase verkündete „Hier wohnt …“ und mit krakeliger Wachsmalstiftschrift „Mme Olga“ eingetragen war. Das ließ ja hoffen! Da sich auch nach mehrmaligem Drücken des Klingelknopfes keine hörbare Reaktion zeigte, verlegte sich Meyer aufs Pochen an der Pforte, auf das hin nach einer kurzen Weile ein gekrächztes „Die Tür ist offen“ an sein Ohr drang. Meyer drückte also das Portal nach innen und trat in einen dunklen, engen Flur, der fachmännisch mit altem Gerümpel vollgestellt war. Nichts anderes hatte er erwartet. Aus der letzten Tür auf der rechten Seite des Erns drangen ein flackerndes Licht sowie Geräusche, so dass Meyer sich vorsichtigen Schrittes in diese Richtung bewegte, immer darauf achtend, nicht zuviel von dem Ausschuss zu zertreten, der den Flur besiedelte. Der angesteuerte Raum erwies sich als recht geräumige Küche, vor deren verhängtem Fenster Madame Olga stand, telefonierend. Alles an ihr erinnerte Meyer an seinen Onkel Walter: Die krummen O-Beine, die Tätowierung auf ihrem linken Arm, die Bierkutscherstimme, die wilden Flüche sowie die unter ihrem Schleier sichtbaren Bartstoppeln. Naja, die Gute war ihm auch schließlich nicht als Heidi oder Gisele angepriesen worden, sondern als Pythia. Doch stellte sich ihm die Frage, wie gut sie diese Rolle wohl erfüllen würde, ließ sich doch dem von ihr erregt geführten Telefongespräch entnehmen, dass sie die Zahlungsunfähigkeit eines ihrer Kunden anscheinend nicht vorausgesehen hatte. Doch bevor Meyer sich darum allzu viele Gedanken machen konnte, knallte sie auch schon den Hörer auf die Gabel – nicht, ohne zuvor noch eine Verwünschung ausgestoßen zu haben, die geradeswegs aus dem Zitatenschatz Vulgariens zu stammen schien – und heftete ihre Augen auf Meyer. Zumindest kam es ihm so vor, denn außer ihrer rudimentären Backenbehaarung war hinter ihrem Schleier wenig zu erkennen.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, eröffnete sie sogleich das Verkaufsgespräch.
„Nun, ich suche …“, begann Meyer, nur, um von ihr sofort unterbrochen zu werden: „Jeder, der hierher kommt, ist ein Suchender. Sie suchen, ich finde. Woraus wünschen Sie, dass mein Orakelspruch hervorgeht? Tarotkarten? Doppelkopf? Kaffeesatz? Hand? Oder lieber das Eingeweideorakel? Das würde allerdings teurer als gewöhnlich, da ich nur noch einen Hamster übrig habe“, wobei sie auf einen in der Ecke stehenden, mit einem geblümten Tuch verhängten Käfig wies, aus dem sogleich hastig trappelnde Schrittchen sowie ein fast unhörbar leises, aber dafür umso entsetzteres, Quieken zu vernehmen waren.
„Nein, Sie verstehen nicht, gute Frau“, warf Meyer ein, „ich suche eine ganz bestimmte Person, einen gewissen Schmydzler. Ihr alter Waffenbruder, der Große Otto, sagte mir, Schmydzler sei jüngst zu Ihnen gekommen, um Rat zu finden.“
„Aaach, Schmydzler, natürlich“, entgegnete Madame Olga. „Der war hier. Wusste nicht, wohin. Ich sollte für ihn einen Blick in die Zukunft werfen. Doch die Karten zeigten anscheinend nicht das, was er sich erhofft hatte. Schließlich sagte er noch, er wolle bei einem Kumpan in Worms untertauchen. Hilft Ihnen das weiter? Wer sind Sie überhaupt? Habe ich zuviel gesagt?“
Worms? Na reizend. Worms. Nun gut, so wusste Meyer wenigstens, woran er war.
„Ganz und gar nicht“, bemühte er sich, die Bedenken der Wahrsagerin zu zerstreuen.
„Na, dann ist ja gut. Kann ich sonst noch was für Sie tun?“
„Danke, sie haben mir schon sehr geholfen.“
Das war ja fast zu einfach, dachte sich Meyer. Eine Informantin, die einfach so drauf los redete, und dann auch noch einen konkreten Hinweis hatte. Naja, was sollte es, auch das musste es schließlich einmal geben.
„Auf Wiedersehen“, sagte Meyer, schon seine Reise in die Nibelungenstadt planend, als er beim Händedruck mit Madame Olga – fest wie der eines Hafenarbeiters – an ihren Schleier geriet, der daraufhin hinunterzurutschen drohte. „Oh, Verzeihung, Moment, das rücke ich wieder gerade“, entschuldigte sich Meyer, worauf Madame Olga nur ein schreckhaftes „Schon gut, machen Sie sich keine Umstände“ ausstieß, und versuchte, sich ruckartig von ihm zu entfernen. Da Meyer aber eine Seite des Schleiers noch in der Hand hatte, riss er ihr diesen dadurch ganz vom Gesicht. „Schmydzler!“, entfuhr es Meyer, denn dessen schreckgezeichnetes Antlitz war nun unverhüllt sichtbar geworden. Meyer hatte doch gleich gewusst, dass etwas nicht stimmte!
Geistesgegenwärtig zog er in einem Sekundenbruchteil seinen Verhaftungssack hervor, den er für solche Gelegenheiten stets bei sich trug, stülpte ihn dem völlig entgeistert paralysierten Schmydzler über den Kopf, warf ihn um, knotete den Sack zu und setzte sich drauf. Geschafft! Darauf erst mal einen Kamillentee.

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