Um mich herum, nur das sanfte Geflüster der mächtigen Bäume. Ich blickte zurück auf meine Spuren im hohen Gras, doch sie waren kaum mehr wahrzunehmen, wieder neues Gras überwucherte sie. Ich wusste weder woher ich kam, noch wohin mein Weg mich führen würde. Meine Füße trugen mich einfach weiter, durch eine von zarten Sonnenstrahlen durchflutete Lichtung.


Die hohen Bäume flüsterten ein stummes Gedicht des Waldes. Aus der Ferne drang ein sanftes Plätschern an mein Ohr. Vielleicht war es ein Bach, verzaubert vom Gesang der Feen. Die Feen, magische und wundervolle Wesen, geboren aus dem Lachen von Kindern. Das sanfte Gras unter meinen nackten Füßen fühlte sich so unbeschreiblich an. Mein Blick schweifte über die Lichtung und ich sah hier und da kleine Wildblumen in all ihren Farben von zartem Gelb bis hinein ins tiefste Violett. An manchen Stellen wuchsen Pilze von so seltsamer Erscheinung, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Manche waren purpurfarben, hatten gelbliche Tupfen, und ich war mir sicher, wenn es dunkel wäre, dann würden sie beginnen zu leuchten; andere hingegen hatten eine menschenähnliche Form. Wie ich da so stand und das Wunder dieser so seltsamen und doch vertrauten Natur genoss, bemerkte ich fast gar nicht, wie es begann. Das Konzert der Wälder, welches ich so liebte. Die Boten des Waldes erhoben ihren Gesang, zwitschernd, summend, raschelnd und wispernd. Ich ließ mich in das hohe Gras fallen und lauschte ihnen, während ich die Wolken am Himmel vorüber ziehen sah. Wunderschöne, spielende Himmelstänzer waren sie. Ich atmete ihn tief ein, den Duft des Waldes, der Blumen, des Grases, des Laubes, des Wassers und der Tiere. All dies erfüllte die schmerzhafte Leere in mir mit unendlicher Liebe. Ewige Zeiten würde ich ihnen gerne lauschen, doch ich fühlte, dass ich weiter musste. Als ich mich erhob, überblickte ich noch einmal die Lichtung; rechts von mir führte ein schmaler Pfad tiefer in den Wald hinein. Als ob er mich rufen würde, zog er mich wie magisch in seinen Bann, ohne nachzudenken folgte ich ihm. Wohin er mich führen würde war mir nicht bewusst, es interessierte mich auch nicht sonderlich. Solange ich an diesem Ort war, fühlte ich mich ganz, egal wohin ich ging. Das Blätterdach der Bäume wurde allmählich dichter, sodass die wärmenden Strahlen der Sonne den mit Laub bedeckten Waldboden nur mancherorts erreichten. In diesem Teil des Waldes lag eine Menge duftendes Laub. Ich mochte den zarten Klang und das Gefühl, wenn es unter meinen nackten Füßen knisterte. Es war ein herrliches Geräusch, die Hymne des Herbstes, wie ich empfand.

„Sabrina!“, erschrocken blickte ich auf.
Es war wie ein Schauer von Farben, der mich überkam. Plötzlich saß ich an einer Schulbank und vor mir stand Herr Mayer. Er war ein hagerer Mann mittleren Alters mit schütterem schwarzen, von grauen Strähnen durchzogenen Haar. Im Augenblick sah er alles andere als zufrieden aus, eher sehr gereizt.
Ich begann mich zu fragen, was dieses Mal meine Strafe sein würde; er war schon immer ein ziemlich strenger Lehrer gewesen.
„Ähm … ja?“, irgendwas musste ich jetzt einfach sagen.
Vielleicht hätte ich mir vorher eine Ausrede zurecht legen sollen, das wäre um einiges klüger gewesen.
„Wenn dir mein Unterricht zu langweilig ist, stehst du wohl besser draußen vor der Tür!“, schimpfte er mal wieder.
Ohne ein weiteres Wort, Ärger hatte ich ohnehin schon genug, ging ich in Richtung Tür.
„Wir beide müssen uns noch unterhalten. Nach dem Unterricht!“, sagte er.
Seufzend verließ ich den Raum, im Hintergrund hörte ich das Gelächter meiner Klassenkameraden. Sollten sie mich doch auslachen, das war mir immer schon egal gewesen. Ich brauchte keine Freunde, solange ich meine Träume hatte. Allerdings waren es auch diese, die mich tagtäglich in neue Probleme hinein manövrierten. Der Flur war leer; als ich auf mein Handy sah, wusste ich auch, warum. Der Unterricht hatte gerade erst begonnen, der alte Stinkstiefel hätte ruhig mal eine Ausnahme machen können; so zu reagieren, nur weil ich fünf Minuten seines Unterrichtes verpasst hatte. Die Zeit hier konnte ich aber auch dazu nutzen, mich wieder in meine Traumwelt zurückzuziehen, wo es doch gerade so interessant geworden war; so tief war ich bisher noch nie in den Wald gegangen. Das Fenster gegenüber unseres Klassenzimmers zog meinen Blick zuerst auf sich. Es war recht schönes Wetter heute, ein schöner blauer Himmel, durchzogen von wenigen wattigen Wolken.

Sie hatten die Form von Drachen, Drachen, deren silbrig weißer Panzer im Licht der Sommersonne strahlte.
Ich streckte die Hand aus um einen zu berühren, doch sie waren zu flink und entwischten einem immer viel zu schnell. Eines Tages wollte ich auf so einem Wesen durch die Lüfte gleiten, wie sie mit den Wolken verschmolzen, um so vor den Blicken anderer verborgen zu bleiben.

„Was wird das Sabrina?“, zum erneuten Male wurde ich heute nun schon erschreckt. Diesmal war es Eva, ein Mädchen aus meiner Parallelklasse; sie war eigentlich immer nett zu mir, allerdings konnte ich dieses angeborene Misstrauen allen Menschen gegenüber auch bei ihr nicht ablegen. Sie trug einen Haufen Bücher mit sich herum, vermutlich Lektüre für den Unterricht. Misstrauisch beäugte ich sie, wie ich es bei allen tat, die mich freundlich ansprachen. Die Menschen hatten immer nur einen Grund so etwas zu tun, entweder, weil sie etwas brauchten, oder sie wollten nur nicht unhöflich sein. Alles beides Gründe, aus denen ich nicht angesprochen werden wollte.
„Du träumst wohl mal wieder“, sagte sie.
„Das auch noch in Mayers Unterricht; eins muss man dir lassen: Mut hast du“, lachte sie. Aus irgendeinem Grund sah sie besorgt aus; das bildete ich mir bestimmt bloß ein. Ich widmete meine Aufmerksamkeit wieder den Drachen.
„Wenn du willst warte ich auf dich, Mayer will bestimmt noch mit dir reden. Dann können wir zusammen nach Hause gehen.“ Wieder entfuhr mir ein Seufzer nicht nur wegen ihrer, meiner Meinung nach scheinheiligen, Frage, sondern auch, weil mir jetzt wieder einfiel, dass ich heute wohl nicht pünktlich aus der Schule kommen würde.
Ohne Eva anzublicken entgegnete ich ihr: „Ist schon gut, das brauchst du nicht.“ In dem Fenster sah ich die Spieglung ihres Gesichtes, das enttäuscht aussah.
„Wenn du es dir anders überlegst, ich muss jetzt in den Unterricht. Wir sehen uns hoffentlich nochmal.“ Sie ging mit den Büchern davon.
Jetzt hatte ich ein schlechtes Gewissen, allerdings nicht allzu schlecht. Niemand interessierte sich wirklich für mich, so war das schon immer gewesen. Wenn ich etwas erzählte, lachten sie mich aus, oder unterbrachen mich mitten im Satz. Mittlerweile war mir das egal geworden. Sich mit seinen Träumen zu beschäftigen war definitiv die bessere Entscheidung. Keiner, der mich ärgerte, mich ignorierte, oder sagte, was ich zu tun hatte. Hier war alles möglich. Ich konnte tun was ich wollte und wie ich es wollte.
Schon schallte die Schulglocke, und meine Mitschüler verließen fluchtartig den Raum. Herr Mayer, der gerade seine Unterlagen sortierte, bedeutete mir mit einer Handbewegung, einzutreten. Widerwillig folgte ich seiner Aufforderung.
„Was ist nur los mit dir in letzter Zeit?“, fragte er mich.
Auf einmal klang er nicht mehr wütend. Es hörte sich an, als würde er sich Sorgen um mich machen. Das war etwas, das ich nun wirklich nicht gebrauchen konnte.
„Um deine schulischen Leistungen mache ich mir keine Sorgen, auch wenn deine mündliche Mitarbeit stark nachgelassen hat“, sagte er nun.
Er war noch immer damit beschäftigt seine Unterlagen zu sortieren.
„Aber …“, begann er, „in letzter Zeit träumst du nur noch vor dich hin und passt nicht mehr richtig auf. Das passiert auch bei den anderen Lehrern.“ Nun sah er mich an.
Zu allem Ãœberfluss hatte er jetzt nicht nur den besorgten Tonfall, sondern auch noch einen besorgten Blick. Wie nervig.
„Solange deine Zensuren nicht darunter leiden habe ich nichts dagegen. Allerdings zieht das die Moral der Klasse ziemlich nach unten“, fuhr er fort.
Moral? Die war schon ganz tief im Keller, als ich diese Schule das erste mal betreten hatte. Meiner Meinung nach konnte er froh sein, dass keiner von denen eine Waffe mit in die Schule brachte.
„Gut, die Klassenmoral war schon immer nicht besonders gut“, gab er zu.
Scheinbar konnte man mir meine Skepsis ansehen.
„In letzter Zeit ist sie allerdings noch viel tiefer gesunken“, sagte er.
Ach, war das jetzt meine Schuld?
„Tut mir Leid“, brachte ich mühevoll hervor.
Lügen war nie so meine Stärke gewesen. Aber scheinbar kaufte er mir das ab.
„Gut, du kannst jetzt gehen. Solltest du irgendwelche Probleme haben –“, fing er an.
War das jetzt so eine Mischung aus Sorge und Mitleid?
„Hab ich nicht“, unterbrach ich ihn.
„Aber –“, setzte er an. Jetzt eilte ich zu meinem Platz um meine Sachen zu holen.
„Sie sagten ich kann jetzt gehen, oder? Dann geh ich jetzt.“ Ohne ein weiteres Wort verließ ich, fast genauso fluchtartig wie meine Mitschüler, den Raum. Bei einem Blick über meine Schulter konnte ich noch einmal sein sorgenvolles Gesicht sehen.

Auf dem ganzen Heimweg hatte ich ein schlechtes Gewissen; das hatte ich immer, wenn sich jemand Sorgen um mich machte. Vielleicht hätte ich nicht so unfreundlich reagieren sollen. Nicht auf Herrn Mayer und auch nicht auf Eva. Egal, ich war gerne allein. Mein Gewissen war mittlerweile so schlecht geworden, dass ich mich auf nichts anderes konzentrieren konnte, nicht mal auf meine Träume. So musste ich mein ganzes Umfeld, das ich sonst immer ausgeblendet hatte, ertragen. Da waren die Hundehaufen auf dem Gehweg und die Menschen, die einen beim Versuch diesen auszuweichen regelmäßig fast auf die viel befahrene Straße schubsten. Alles in allem war es wohl im Laufe der Zeit kein wirkliches Misstrauen, sondern viel mehr zu Menschenhass geworden.

Endlich war ich zu Hause angekommen. Es war zwar nur ein zehnminütiger Fußweg, aber es kam mir wie ein zweistündiger Trauermarsch vor. Post war keine im Briefkasten, also ging ich gleich nach oben, in meine kleine Einzimmerwohnung in der dritten Etage.
Seit meinem vierzehnten Geburtstag im letzten Jahr wohnte ich alleine. Das war die Entscheidung des Jugendamtes, weil meine Eltern sich nicht richtig um mich gekümmert hatten. Ich selber hatte nichts gegen die Erziehung meiner Eltern, diese hatten mich die meiste Zeit wie Luft behandelt. Aber da ich gerne alleine war und meine Ruhe hatte, war mir das nur Recht gewesen.
Als ich nun die Wohnungstür öffnete, kam mir sofort meine kleine Katze Sue entgegen, die mich freudig begrüßte. Ich kam schon immer besser mit Tieren aus als mit Menschen. Müde von den Ereignissen des Tages, in letzter Zeit war ich häufig müde, machte ich schnell noch eine Dose Futter für Sue auf und ließ mich dann auf mein Bett fallen. Sofort schlief ich ein.

Unter meinen Füßen fühlte ich das Gras, es kitzelte mich zwischen den Zehen, ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Wiedermal fühlte ich mich so wohl, wie es in der wahren Welt niemals möglich sein würde. So viel Wärme verspüre ich in meinem Herzen bei dem Anblick dieser Landschaft.
In dieser Welt gibt es so viel, das ich noch entdecken möchte, dort vor mir liegt ein Bach. Wie eine Schlange schlängelt er sich elegant durch die Wiesen. Für die kleinen Insekten scheint er ein gewaltiger, reißender Strom zu sein. Mein Blick schweift an ihm entlang und heftet sich schließlich an eine Ameisenstraße, deren Ameisen in Reih und Glied marschieren wie kleine Soldaten, die versuchen über einen niedergefallenen Zweig die Fluten zu überqueren. Aus der Ferne vernehme ich wieder ein Plätschern und entschließe mich, mich von den Ameisen abzuwenden um die Ursache des Geräusches zu finden. Die Landschaft genießend schlendere ich den Bach entlang, bis ich zu einer Art Wasserfall gelange. Für mich ist er nicht mal so hoch wie eine Stufe, für die kleinen Lebewesen des Waldes ist er allerdings gewaltig. Ein blaues Schimmern huschte gerade an mir vorbei. Es kam so plötzlich, dass ich erschrak, doch jetzt sehe ich sie. Regengeister. Kleine blauhäutige Feen, mit Flügeln ähnlich denen eines Bläulings. Diese Wesen erschienen immer dann, wenn es Regen geben würde um dann mit den regenliebenden Bewohnern des Waldes ein Fest zu veranstalten. Ein Fest zu Ehren des Regens, welcher ihnen Freund und Mutter zugleich war. Ein erster Tropfen streifte mein Gesicht, bald würde es losgehen. Ich kannte ihre Feste schon und sie gefielen mir, deshalb gesellte ich mich auch heute zu ihnen.
Warten musste ich auch nicht lange, denn nur wenige Augenblicke später prasselte der Regen hernieder, durchtränkte mein Haar, und seine Tropfen liefen mir wie ein sanftes Streicheln die Wangen hinab und das Fest begann. Wie sooft sah ich ihn, den Tanz der Regengeister, doch sie tanzten ihn nie allein, sondern mit den Fröschen, Regenwürmern, Wasserläufern und all den anderen Tieren, die sich ihnen dazu gesellten. Sie erfreuten sich an dem Segen, der ihnen vom Regen gegeben war.
Es war nur ein kurzer Schauer, der Himmel klarte allmählich wieder auf, und mit dem Regen verschwanden auch die Regengeister. Plötzlich ertönte ein schriller Ton, welcher durch die endlose Landschaft hallte und mich gewaltsam aus meiner Traumwelt riss. Es war das Telefon, das unaufhörlich klingelte. Unter Protest all meiner Gliedmaßen, die sich lieber wieder in mein Bett kuscheln wollten, schlurfte ich widerwillig und schlaftrunken in den Flur, wo es auf einem kleinen quadratischen Tisch stand und um Aufmerksamkeit bettelte. Ein Telefon war etwas, das wirklich nicht zu mir passte, wollte ich doch am liebsten von allen Menschen in Ruhe gelassen werden; allerdings hatte ich es mir auch nicht freiwillig angelegt. Laut Anordnung der Schule musste man erreichbar sein, entweder man selbst oder die Eltern, und da ich alleine lebte, hatte ich keine andere Wahl gehabt. Ich nahm den Hörer ab.
„Ja?“, fragte ich mit einer ziemlich kratzigen Stimme.
„Guten Morgen! Hab ich dich etwa geweckt?“ Das war Eva.
Ich hatte ihr meine Nummer nicht gegeben, also musste sie sie aus dem Klassenbuch haben; da sie ganz vorne vorm Lehrertisch saß, hatte sie einen guten Blick darauf.
„Du weißt aber schon, was heute für ein Tag ist, oder?“, fragte sie mich auf ihre gewohnte viel zu fröhliche Art und Weise.
„Freitag, oder?“, grummelte ich zurück.
„Ja, das auch. Aber das meine ich nicht. Heute ist Wandertag!“
Jetzt kicherte sie. „Ich dachte mir schon, dass du es vergessen würdest.“
Das hatte ich wirklich vergessen, und ich begann nun diesbezüglich in meinen Erinnerungen herumzukramen.
„Aber, bedeutet das nicht, dass wir uns dann erst um zehn Uhr am Bahnhof treffen?“, fragte ich nun unüberhörbar gereizt. Ich hatte zuvor einen Blick auf die Uhr geworfen, die über dem Telefon an der Wand hing.
„Warum rufst du mich dann um fünf Uhr morgens an?!“, blaffte ich sie an.
„Morgenstund hat Gold im Mund?“, entgegnete sie heiter.
„Also dann, bis später!“ Es klackte kurz, darauf folgte ein in kurzen Abständen gleichbleibendes Tuten, und ich pfefferte gereizt den Hörer auf die Gabel.

Das hatte sie mal wieder gut hinbekommen, ich hatte schlechte Laune. Schlafen konnte ich nun auch nicht mehr, also entschied ich mich dazu, Sue und mir Frühstück zuzubereiten.
Dadurch, dass ich durch Evas geniale Aktion viel zu viel Zeit hatte, machte ich mir an diesem Morgen mal ein größeres Frühstück als die gewohnte Tasse Tee und die Scheibe Toastbrot. Ich schlug drei Eier in die Pfanne, schob zwei Scheiben Weißbrot in den Toaster und setzte Wasser für einen Kräutertee auf. Schon kam Sue maunzend in die Küche, das machte sie immer, wenn sie etwas zu essen roch.
„Was darf es heute sein, werte Dame?“, fragte ich sie in einem gespielten höfischen Ton.
„Sprotten?“, fragte ich, sie fauchte.
„Nein? Dann doch lieber Thunfisch?“ Jetzt schnurrte sie.
Ich öffnete die Dose Thunfisch und gab den Inhalt auf einen flachen Teller, den ich vor ihr hinstellte, und sofort machte sie sich darüber her. Es war immer seltsam mit meiner Sue, fast als würde sie jedes Wort verstehen, das ich sagte. Manchmal, das kam selbst mir verrückt vor, kam es mir so vor, als sei es umgekehrt genauso.
Ein Zischen riss mich aus diesen Gedanken.
„Die Eier!!“, rief ich erschrocken und eilte zum Herd, mit einem Maunzen im Hintergrund, welches wie ein Lachen klang.
Nun saß ich in meiner Küche am kleinen Ecktisch und nippte an meinem Tee, in der Tasse tanzten die vielen kleinen Krümel hin und her. Beuteltee trank ich niemals, ich traute den Menschen nicht und man konnte sich, meiner Meinung nach, nie sicher sein, was diese wirklich in die hinein taten.
Nach einem großen Schluck spürte ich auch schon, wie sich die Wärme des Getränkes in jeder Faser meines Körpers ausbreitete. Ein angenehmes Gefühl. Selbst die Eier waren mir gut gelungen, auch wenn sie etwas angebrannt waren. Ich war ohnehin keine gute Köchin, und normalerweise wären sie nicht so gut geworden, dass sie nur an einigen Stellen leicht schwarz waren. Ich blickte auf das Stückchen Ei, mit dem ich soeben meinen Toast belegt hatte.
„Essbar“, murmelte ich und biss ein großes Stück davon ab.
Ich hätte sie auch gegessen, wenn sie ganz verkohlt gewesen wären. So viel Geld, dass ich sie hätte wegwerfen können, hatte ich auch nicht, also tat ich dies auch nie.
Miesepetrig blickte ich auf die Uhr im Flur, die ich von hier aus gut im Blick hatte, jetzt war es sechs Uhr zwölf. Immer noch viel zu früh.
Mein Blick schwenkte zum Küchenfenster, neben dem ich saß.
Draußen wechselten die Wolken allmählich spielerisch ihre Farben, von Ultramarinblau zu Dunkelblau, von Dunkelblau zu Violett, von Violett zu schillerndem Rot, und von diesem Rot zu einem zarten zuckerwatteartigen Rosa.
Wieder ein Blick auf die Uhr, sechs Uhr dreiunddreißig. Mir blieb nichts anderes übrig als zu warten, mit Sue auf dem Schoß, die soeben auf ihn gesprungen war und sich schnurrend zusammen gerollt hatte; gedankenverloren streichelte ich sie.
Als die Uhr acht Uhr zehn anzeigte schob ich Sue sanft von meinem Schoß, sie blickte ein wenig beleidigt drein und verschwand dann in Richtung Schlafzimmer.
Ich belegte mir schnell noch ein paar Brote, füllte den Rest des, mittlerweile abgekühlten, Kräutertees in eine Plastikflasche und packte alles zusammen in meine Tasche.
Dann ging ich los.

Vor dem Bahnhof standen meine Mitschüler, die aus meiner eigenen und der Parallelklasse. Als Eva mich erblickte lächelte sie und zog mich zu sich rüber.
„Hast du einen schönen Morgen gehabt?“, fragte sie.
Ich blickte finster. Sie kicherte.
„Also, ich weiß nicht, was du hast, ich stehe jeden Morgen so früh auf“, sagte sie.
„Du wohnst auch außerhalb der Stadt“, gab ich zurück.
„Tja“, sagte sie schlicht und offenbar überglücklich.
Solche Menschen gingen mir im übrigen besonders auf die Nerven. Immer fröhlich, immer glücklich, als gäbe es keine Probleme auf der Welt und alles wäre wunderschön, was es selbstverständlich nicht war.
Herr Mayer kam gerade an uns vorbei, er zählte die Schüler durch.
„Da wir jetzt vollzählig sind, können wir los“, sagte er und führte die Traube von Schülern auf den Bahnsteig zwei.

Als der Zug einfuhr verteilten sich die Schüler auf zwei Zugabteile. Ich saß an einem Fenster und blickte nach draußen, wo die Häuser der Stadt an uns vorbeizogen.
„Möchtest du ein Stück Kuchen?“, fragte mich Eva. Ich schreckte hoch und blickte sie an.
Sie hielt mir ein äußerst köstlich aussehendes Stück Kuchen hin. Ich glaube es war eine Donauwelle.
„Ich hab ihn extra für heute gebacken“, sagte sie strahlend.
Das war wirklich nett von ihr, und trotzdem, ich wollte einfach nichts mit anderen zu tun haben. So war ich nun einmal.
„Das ist nett, aber –“, begann ich. Doch sie unterbrach mich.
„Ach komm schon! Immer reagierst du so!“, sagte sie nun etwas beleidigt.
Ich hatte noch ein schlechtes Gewissen vom Tag zuvor, also entschied ich mich den Schmerz auf ein Minimum zu reduzieren.
„Na gut. Ich nehme eins. Danke!“, gab ich mich geschlagen.
Ungläubig und überrascht blickte sie mich an.
„Du kannst ja richtig nett sein“, lachte sie.
Ich ignorierte diesen Kommentar und aß mein Stück Kuchen, während ich wieder aus dem Fenster blickte. Die Häuser der Stadt waren mittlerweile verschwunden, und man blickte nun auf eine weite Landschaft mit Feldern, Hügeln und einem kleinen Wäldchen in der Ferne, welches das Ziel des heutigen Wandertages war.

Am Bahnhof angekommen, beschwerten sich viele erst einmal darüber, dass sie zu Fuß diesen Wald durchqueren sollten. Was für Waschlappen, dachte ich mir.
Der Wald vor mir erinnerte mich an den Wald aus meiner Traumwelt, was meine Laune deutlich verbesserte. Ich fühlte mich zu Hause. Ohne es zu merken muss ich zu lächeln begonnen haben.
„Du strahlst ja richtig“, sagte Eva.
Ich fuhr zusammen.
„Ups, hab ich dich erschreckt? Tut mir Leid“, sagte sie und blickte nun auch in den Wald.
„Du scheinst Wälder zu mögen, nicht? Ich hab dich noch nie lächeln gesehen“, sagte sie.
Ich reagierte darauf nicht, ich wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden.
Sie schien zu begreifen und sagte fortan nichts mehr zu mir.
Als Mayer wieder alle durchgezählt hatte und offenbar keiner fehlte, gingen wir los.
Schweigend lief ich durch den Wald, gefolgt von Eva; die sagte zwar nichts mehr, wirkte allerdings so, als würde sie noch lange nicht aufgegeben haben.

An einem Rastplatz angekommen, verkündete Herr Mayer, dass wir uns jetzt frei bewegen könnten, aber bis sechzehn Uhr dreiundfünfzig wieder an diesem Rastplatz seien sollten. Das war großartig für mich, und sofort war ich durch die nächste Böschung verschwunden, querfeldein in den tieferen Wald. Je mehr Schritte ich tat, desto verwaschener wurden die Umrisse, bis ich mir sicher war, wieder in meine Traumwelt eingetaucht zu sein.

Vor mir sah ich wieder die Lichtung, und dieses Mal würde ich weiter gehen, am Bach vorbei, so tief in den Wald, wie es nur möglich war. Als ich den kleinen Wasserfall erreichte, blieb ich stehen. Was war das dort vorne in der Ferne? Eine Mauer?
Seltsam, so etwas hier zu finden. Das musste ich näher untersuchen.
Als ich so nah war, dass ich mehr erkennen konnte, sah ich in der Umgebung noch mehr mit Moos übersäte Säulen und Statuen, von der Zeit gezeichnet.
Die Ãœberreste eines Tempels?
Auf der Mauer, die ich vorher schon erblicken konnte, waren seltsame Runen eingraviert, ich kannte nicht von jeder die Bedeutung, nur von einer.
Madr, 'das Menschliche'. Langsam wurde es mir unheimlich. Warum existierte so ein Ort in meiner Traumwelt?
Ich wusste keine Antwort, also entschloss ich mich nach einer zu suchen und setzte meinen Weg fort.
Meine Schritte führten mich an den moosbewachsenen Ruinen vorbei. Ich blickte hinauf in den blauen, von zarten Wolken bewohnten Himmel. Über meinem Kopf flog eine von ihnen vorbei, ein wunderschöner weißer Drachen zog majestätisch seine Bahnen am Himmelszelt.
„Was treibt ihr da?“, fragte eine erzürnte Stimme direkt hinter mir. Erschrocken fuhr ich herum und konnte noch einen Blick auf etwas erhaschen, bevor sich meine Traumwelt, wie so oft, in einem Schauer von Farben auflöste, und ich in Evas Gesicht blickte.
„Was ist los?“, fragte sie mich besorgt.
„Nichts“, antwortete ich, und doch wusste ich es besser.
Jemand war dort gewesen, in meiner Welt.
Die Welt,die ich selbst geschaffen hatte; es war unmöglich, dass es dort irgendjemanden geben konnte außer mir. Ich konnte mich genau an das Gesicht erinnern, ein Junge ungefähr in meinem Alter, einen guten Kopf kleiner als ich und Augen, die von einem sanften, aber fremdartigen Grün erfüllt waren. Grün wie eine sonnige Lichtung an einem Sommermorgen, das waren sie. Ein Elf, das musste er gewesen sein. Dennoch sollte es so etwas in meiner Traumwelt nicht geben, schließlich war ich es, die sie erschaffen hatte.
Doch dessen war ich mir auf einmal nicht mehr so sicher.
„Hörst du mir überhaupt zu?“, fragte Eva nun hörbar erbost.
„Entschuldige, ich war in Gedanken. Was hast du gesagt?“
Eva schüttelte den Kopf.
„Du solltest aufpassen, dass du nicht eines Tages in deiner Traumwelt festhängen bleibst“, lachte sie und wies mit einer Handbewegung nach hinten.
Dort machten sich die Anderen bereits auf den Heimweg, und wir folgten ihnen.
In meinem Kopf hatte ich allerdings nur noch diesen Jungen; warum war er dort gewesen, was hatte er dort getan? Ich wusste es nicht, aber ich würde es herausfinden.