Ich schaukle. Und schaukle und schaukle und schaukle.


Schaukle nach hinten, hole Schwung und schwinge mit ausgestreckten Beinen voran in den Himmel. Noch ein bisschen weiter und ich lande auf einer Wolke.
Bei jedem Schwung nach vorne kippt der Garten weg. Und ist gleich wieder da. Die Apfelbäume werden kleiner und wieder größer, kleiner und wieder größer.
Auch Papa wird kleiner. Und wieder ganz groß. Doch ich bin größer.
Er winkt mir zu. Ich will zurück winken, aber meine kleinen Hände umklammern fest das blau-weiße Garn der Schaukel, bis ich die Abdrücke in meiner Haut spüre. Ich lächle ihn an.
Von da unten kann er die Tränen nicht sehen. Der Wind trocknet sie, was bleibt ist nur ein salziger Geschmack auf meinen Lippen. Große Mädchen weinen nicht.
„Sing doch was!“ ruft Papa von unten. Ich schüttle den Kopf. Ich will heute nicht singen, nur schaukeln, schaukeln, schaukeln. Noch ein bisschen mehr und ich bin wieder glücklich.
Wenn ich doch nur bis in den Himmel schaukeln könnte! Abspringen und losfliegen, in eine andere Welt! In meine Welt, die perfekt ist.Wo alle glücklich sind. Auch der Papa.
„Essen ist fertig“, ruft Mama vom Balkon. Der Traum ist zu Ende. Ich hole noch einmal kräftig Schwung, springe ab und lande …, statt im Himmel, neben Papa auf der Erde. Jetzt bin ich wieder ganz klein.
Aber das ist auch gut so. Ich lehne mich an sein Bein und atme den rauchigen, mit Waschmittel vermischten Holzofenduft seiner Jeans ein. Lächelnd streicht mir Papa über den Kopf, nimmt meine kleine Hand in seine große und so gehen wir gemeinsam ins Haus.

„Mmmh, das riecht aber lecker“, sagt Papa als er in die Küche kommt und gibt Mama einen Kuss auf die Wange. „Wasch dir lieber erst einmal die Hände!“ „Du warst schon wieder den halben Tag im Heizungskeller, oder? Es riecht furchtbar nach Rauch und Bier!“ antwortet sie und zieht die Augenbrauen hoch.
Seufzend dreht sich Papa um und geht ins Bad. Manchmal versteh ich dich nicht, denke ich und schaue meine Mama an, da ist er schon einmal gut gelaunt und du ignorierst das total. Doch ich sage nichts und setze mich neben meinen Bruder an den Tisch. Das Abendessen wird laut und lustig wie immer am Sonntag. Alle lachen und plappern durcheinander. Das Essen schmeckt gut und sogar der Papa ist fröhlich und erzählt Witze. Auch Mama wird entspannter. Danach sitzt die ganze Familie noch lange in der Küche zusammen, es werden Spiele gespielt und Lieder gesungen.
Wenn doch nur immer Wochenende sein könnte.

„So jetzt ist aber Schlafenszeit“, sagt Mama plötzlich und schaut uns beide Kinder abwartend an.
„Oh nein jetzt doch noch nicht, wir sind noch gar nicht müde“, lauten die üblichen Antworten. „Los keine Widerrede, sagt eurem Vater noch gute Nacht und dann ab ins Bett!“ Widerstrebend lassen wir uns von der Bank gleiten und wandern um den Tisch herum zu Papa. „So jetzt kommt mal her ihr beiden“, brummt der und hebt einen nach dem anderen auf seine Knie. „Von was träumt ihr denn heute Nacht?“„Von Piraten und Cowboys“, erwidert mein kleiner Bruder mit ernster Miene. Papa lacht und drückt ihn an sich. „Na dann ist ja gut!“ „Und von was träumst du meine Kleine?“ „Davon, dass du nicht mehr krank bist“, flüstere ich leise. Kurz verzieht sich Papas Miene doch dann lächelt er leicht. „Na dann ab in die Falle mit euch und Gott beschütze euch.“ Wir drücken ihm einen Kuss auf jede Wange und er streicht uns über die Stirn.

Als ich im Bett liege und den leisen Stimmen meiner Eltern lausche, die sich noch in der Küche unterhalten, werde ich plötzlich ganz traurig. Ich schließe die Augen und spüre noch die Berührung von Papas rauer Hand auf meiner Haut. Ich versuche das Gefühl festzuhalten, so lange es geht. Ich weiß, dass bald alles anders wird. Doch schnell denke ich ans Schaukeln, kneife die Augen ganz fest zu und stelle mir vor wie ich hoch in den Himmel fliege und die Welt und der Papa immer kleiner werden.

Artikelbild: by Malaika (CC BY 2.0)