Georg steht vor dem Spiegel. Wie jeden Morgen. Nach dem Aufstehen schlurft er ins Bad, stellt den Wasserhahn an, schmeißt sich kaltes Wasser ins Gesicht und sieht in den Spiegel. Betrachtet sein Gesicht, die dünnen Haare, die blasse Haut, das unrasierte Kinn. Wie jeden Morgen. Beobachtet wie seine Augen immer größer werden. Schöne Augen. Braun und groß. Wenigstens das.


Je näher er an den Spiegel herantritt, desto undeutlicher wird das Bild. Sein Atem beschlägt das Glas und lässt sein Gesicht verschwimmen. Mit der Umgebung. Mit dem Spiegel. Mit ihm.

Auf einmal wird ihm mulmig zumute. Sein Gesicht verliert die Kontur. Er fühlt sich fremd. Aber wegsehen kann er auch nicht. Angestrengt versucht er sich zu erkennen. Sich zu erinnern wer er ist.

Aber viel findet er nicht. Leere Augen starren ihn an. Das Leben ist grau.

Mit Gänsehaut verlässt er das Bad. Ein Blick auf die Uhr sagt ihm dass er spät dran ist.

Nach einem kurzen Snack in der Küche, Pflanzen gießen nicht vergessen, greift er sich seine Aktentasche und macht sich hastig auf den Weg ins Büro.

Die Straßen sind nass, die Luft feucht und als Georg im Eingangsbereich ankommt, eine halbe Stunde zu spät, Bus verpasst, ist er klitschnass.

Die Haare kleben auf seinem Kopf, der Anzug hängt ihm klamm über die Schultern. Der beiläufige Blick in den Spiegel vor seinem Büro lässt ihn zusammenzucken.

Eine graue Maus, Ende dreißig, Brille, wenig Haare, aufgedunsenes Gesicht sieht ihn angewidert durch den Spiegel an.

Georg schüttelt das Bild ab und stößt die Tür auf.

Raunen, Klappern von Tastaturen, Zigarettenrauch. Gelächter.

Mit eingezogenen Schultern setzt er sich an seinen Platz und sieht die Aufträge durch.

Keiner hat ihn bemerkt.

Keiner hat sein Zuspätkommen bemerkt.



Der Tag verrinnt. Ein Nicken, ein Lächeln, unpersönlich, nett, höflich, überspielt. Die Arbeit häuft sich. Georg ist unkonzentriert. Motivation für seine Arbeit hat er schon lange nicht mehr. Der Regen klatscht ans Fenster. Georg beobachtet die Regentropfen, wie sie - manche schneller, manche langsamer - die Scheibe herunterrinnen. Grau in grau.

Ein missbilligendes Räuspern reißt ihn aus seinen Gedanken.

Sein Chef, der seine Anwesenheit schließlich doch bemerkt zu haben scheint, steht vor ihm. „Sie sehen den Papierstapel vor sich, ja? Ich wäre Ihnen sehr verbunden wenn Sie sich mal an die Arbeit machen würden. Das scheint Ihnen in den letzten Wochen ja etwas schwer zu fallen!“ Mit hochgezogenen Augenbrauen blickt er zu Georg hinab. Der schrumpft auf seinem Stuhl zusammen. „Manchmal frage ich mich, in wieweit sie noch notwendig für unsere Firma sind. Lassen sie sich dass mal durch den Kopf gehen.“

Auf einmal haben alle Georg entdeckt. Hunderte Blicke spürt er auf sich.

Gerne wäre er jetzt unsichtbar.

Natürlich passiert das nicht. Er setzt sich an seine Arbeit und versucht nicht weiter aufzufallen. Seit Wochen geht das nun schon so. Ihm fehlt einfach die Konzentration. Die Lust. Die Lust auf irgendetwas. Die Blicke der anderen brennen auf ihm. Getuschel. Trotzig blickt sich Georg um, wird rot und macht sich wieder an die Arbeit. „ Ist mir doch egal, was die von mir denken“ murmelt er vor sich hin.

Mit seinen Kollegen hatte er ja sowieso noch nie großen Kontakt. Auf der Weihnachtsfeier im letzten Jahr war es zwar sehr lustig und seine Witze kamen auch gut an, doch ihm lag nie viel daran, Beziehungen zu vertiefen.

Mit Hannes war er öfter ein Feierabendbier trinken gegangen. Doch er arbeitet schon seit ein paar Monaten nicht mehr in der Firma. Seitdem hat sich Georg immer mehr zurückgezogen. Und die anderen lassen ihn in Ruhe. Er ist der Eigenbrötler, der Zerstreute, der Schüchterne.

Einsam fühlt er sich nicht. Der Kontakt zu anderen ist mühsam. Sich verstellen um dem Anderen zu gefallen. Small Talk. Was kann er schon erzählen? Hat er was erreicht?

Auf dem Heimweg denkt Georg an seine Frau. Exfrau. Alles verloren, alles verspielt. Wie glücklich war er gewesen.

So kann man sich täuschen. Auf die Liebe wird er nicht noch einmal setzen.

Die Rechnungen überfluten ihn. Schulden, Mahnungen, Alimente.

Er schüttelt die Gedanken ab, blickt aus dem Busfenster. Mit seinem Ärmel wischt er einen kleinen Teil beschlagene Scheibe frei. Der Regen strömt unablässig die Fenster herunter.

Sein schwaches Spiegelbild schaut ihn traurig an. Er muss grinsen. So viel Selbstmitleid hält ja doch keiner aus. „Du bist mir noch die beste Gesellschaft.“ Dich kenne ich.“

Der Bus hält an und Georg steigt aus. Lachende Menschen drängen sich an ihm vorbei. Aus den Fenstern leuchtet Weihnachtsdekoration.

Müde und nachdenklich schlurft er nach Hause. Daheim angekommen, Essen in die Mikrowelle, unter die Dusche. Vor dem Fernseher schläft er ein.

Es ist fast ein Uhr als er hochschreckt.

Schwerfällig streift er sich die Decke von den Beinen, steht auf und schaltet den Fernseher aus.

Benommen torkelt er ins Bad. Während er sich bei laufendem Wasserhahn die Zähne putzt, wandern seine Augen wieder zum Spiegel. Er sieht ein müdes, ausgelaugtes Gesicht vor sich.

„Da muss doch noch was sein hinter dieser unscheinbaren Fassade.“ „Es muss doch mehr geben als das!“

Morgen wieder das Gleiche von vorne, Jeden Tag dasselbe...

„ Wer bist du?“ Sein Ebenbild bleibt stumm.

Schon am Umdrehen und Hinausgehen erstarrt er plötzlich. Ein Zwinkern!

Ein Blick in den Spiegel. Nichts passiert. Unverwandt sieht er sich an.

„Da!“ „Schon wieder!“ „Ich zwinkere mir zu... aber ich mache doch nichts!“

„Was passiert hier!“ Die Angst packt ihn und er stürzt aus dem Bad. Das Herz rast.

Es dauert eine Weile, bis er sich beruhigt.

„Was für ein Tag. Ich sollte dringend ins Bett.“ Er atmet tief durch und geht kopfschüttelnd ins Schlafzimmer.

Ein irritiertes Gefühl bleibt.

Wirre Träume quälen ihn durch die Nacht. Als er morgens aufwacht, noch lange vor dem Weckerklingeln, ist er unausgeruht und erschöpft.

Aus dem Bett gequält, zieht er sich an, geht ins Bad, vermeidet den Blick in den Spiegel. Aus irgendeinem Grund fühlt er sich unwohl. Das Zwinkern...

„Ich werde wohl langsam verrückt.“

Der Tag im Büro vergeht schnell. Georg schafft es den Großteil seiner Arbeit zu erledigen und bis auf den Kaffee, der in der Mittagspause auf seiner Hose landet, läuft alles gut. Doch auch heute scheint er wieder unsichtbar zu sein. Das der neue Kollege, der sich auf dem, seinem Arbeitsplatz gegenüber liegenden, Schreibtisch eingerichtet hat, ihm freundlich zunickt, bemerkt er nicht.

Das Erlebnis von letzter Nacht schwirrt in seinem Kopf herum.

Das es ein Traum war, davon ist er fest überzeugt. Trotzdem bringt er es nicht über sich in einen Spiegel zu sehen. Als er auf der Toilette beim Händewaschen kurz den Blick hebt und in seine Augen sieht, fröstelt es ihn.

„Gott sei Dank ist morgen Wochenende. Ich muss mich wohl dringend mal ausschlafen“, sagt er zu sich und sein Spiegelbild nickt ihm zu.

„Es nickt mir zu???!

Ich habe nicht genickt!!!“

Georg reißt den Kopf herum und stürmt aus der Toilette. Kopflos rennt er durch das Büro, vorbei an seinen erstaunten Kollegen. „Georg, was ist los, geht es dir nicht gut?“ ruft Simone die Sekretärin hinter ihm her. Doch Georg hört nicht. Die Angst beherrscht ihn. Er stürmt aus dem Gebäude, rennt über die Straße, rennt und rennt und rennt.

Irgendwann steht er vor seinem Haus. Völlig erschöpft schleppt er sich die Stufen hinauf, in die Wohnung, ins Schlafzimmer, ins Bett. In Anzug und Schuhen schmeißt er sich aufs Bett und fällt auf der Stelle in einen tiefen Schlaf.

Kapitel 2 – Kapitel 3