Am nächsten Morgen bedeckte ich die Feuerstelle, die noch etwas schwach glühte, mit Erde, um sie vollständig zu löschen, während Tobias die Leinentücher wieder in seiner Tasche verstaute. Nun musterte er mich eindringlich.


„Was ist jetzt schon wieder?“, fragte ich gereizt.
„Es ist nur …“, begann er.
„In dieser Kleidung werdet ihr sehr schnell auffallen“, sagte er.
Jetzt, wo er dies bemerkte, wurde mir erst bewusst, dass ich immer noch meine Bondagehose und mein schwarzes Shirt, auf dem ein gefallener Engel abgebildet war, trug. In diesem Punkt hatte Tobias recht. Damit würde ich auffallen, keine Frage.
„Warum erwähnst du das eigentlich erst jetzt? Überhaupt kommt mir das alles mehr als verdächtig vor“, bemerkte ich.
Er zuckte nur die Schultern.
„Glaubt Ihr, mit meiner Verletzung hätte ich großartig irgendetwas anderes wahrnehmen können? Warum sollte es da des Unmöglichen sein, dass ich es erst bemerkt habe?“, fragte er zurück.
Zugegeben, der Punkt ging an ihn, und trotzdem empfand ich es als merkwürdig, was man mir anzumerken schien.
„Seid Ihr immer so misstrauisch?“, fragte er zornig.
„Auf diese Art findet Ihr sicher keine Freunde“, bemerkte er.
„Ich brauche auch keine!“, schrie ich vor Zorn und konnte es nicht verhindern, dass mir ein paar Tränen die Wangen herabliefen.
Ich wusste das selbst, er musste es mir nicht auch noch an den Kopf werfen.
Es war auch ohne seine Worte schwer genug für mich. Ich konnte es einfach nicht ändern, es fiel mir schwer, irgendeinem jemals wieder zu vertrauen.
Damit war unsere heutige Unterhaltung beendet.
Er kramte in seiner Tasche herum, bis er ein Leinenhemd und eine Hose fand. Das Leinenhemd hatte eine moosgrüne Farbe und weite Ärmel, die am unteren Ende enger waren und einige Verschnürungen besaßen. Die Hose war aus dunkelbraun gefärbtem Leinenstoff und war mit drei hölzernen Knöpfen zum Verschließen versehen. Es musste sich um seine Ersatzkleidung handeln, wie ich annahm. Wortlos reichte er sie mir, mit einem entschuldigenden Blick.
Wie ich das hasste! Ich brauchte sein Mitleid nicht!
Ich nahm die Kleidung an, bedankte mich aber nicht für diese Geste.
Danach ließ er mich und Azur für einen Moment allein, damit ich mich umziehen konnte. Alles in allem empfand ich meine Erscheinung seltsam, was zum großen Teil daran liegen musste, dass ich gekleidet war wie ein mittelalterlicher Bürger, der Shucks trug, zudem war sein Hemd an den Ärmeln etwas zu kurz, sowie die Hose an den Beinen, er war ja auch kleiner als ich. Ansonsten schienen mir seine Kleider etwas zu weit zu sein, was seiner Meinung nach damit zu tun hatte, dass ich selbst für ein Mädchen viel zu mager sei. Ich entschloss mich dazu, diese stichelnde Bemerkung fürs erste zu überhören, während ich mit einem Seil, welches er mir als Gürtelersatz gereicht hatte, versuchte, die Hose an Ort und Stelle zu halten.
Außerdem lag mir nun auch noch eine Frage auf der Zunge.
Ich hatte ihn noch gar nicht gefragt, wie alt er eigentlich war; wenn man dem glaubte, was die Menschen in meiner Welt so schrieben, konnten Elfen unglaublich alt werden. Ich hatte immerhin zuerst angenommen er sei, seiner Erscheinung zufolge, in meinem Alter, aber wenn ich genau darüber nachdachte, konnte er natürlich auch viel älter sein.
„Sag mal, wie alt bist du eigentlich?“, fragte ich ihn also.
Er blickte mich verwundert an.
„Aus Euch werde ich einfach nicht schlau“, sagte er.
„Von einem Augenblick in den nächsten hinein ändert ihr Euer Gemüt“, bemerkte er nun.
„Aber wenn ihr es unbedingt wissen wollt, ich bin siebzehn Jahre alt“, sagte er.
„Wirklich?“, fragte ich verdutzt.
Fragend blickte er mich an.
„Oh. Es … ist nur so, dass ich annahm, du seist viel älter als ich“, sagte ich ihm.
„Nur weil wir Elfen viel langlebiger als ihr Menschen sind, heißt das noch lange nicht, dass wir nicht genauso schnell altern“, sagte er.
„Wie alt könnt ihr denn werden?“, wollte ich wissen.
„So ungefähr hundertzwanzig Jahre, wenn es gut läuft. Ihr Menschen werdet nur ungefähr sechzig Jahre, richtig?“, fragte er.
Jetzt war ich noch verdutzter als vorher, das war doch nicht alt.
„Nein“, sagte ich ihm.
„Das ist schon lange nicht mehr so, früher war das vielleicht mal so, aber in heutigen Zeiten können die Menschen auch ungefähr hundertzwanzig Jahre alt werden, zumindest, wenn sie sehr gesund sind“, war meine Antwort.
„Und wie alt bist du nun?“, fragte er mich.
„Ich bin vierzehn“, entgegnete ich daraufhin.
„Verstehe …“, murmelte er mehr zu sich selbst, als an mich gewandt.
Aber neugierig war ich schon.
„Was verstehst du?“, wollte ich wissen.
„Nun, vielmehr verstehe ich, dass ich weniger verstehe, als ich annahm zu verstehen“, antwortete er.
„Häh?“, das verstand ich jetzt nicht.
„Nun, ich habe gelernt, dass Menschen anders als die Lebewesen unserer Welt
seien. Aber bis auf eure Ohren seid ihr uns Elfen doch ziemlich ähnlich, oder irre ich mich da etwa?“, stellte er fest.
Selbst ich musste mir eingestehen, dass zumindest dieser Elf den Menschen ziemlich ähnlich war. Zu meinem Leidwesen.
„Stimmt schon“, gab ich zu.
„Wie dem auch sei, wir müssen langsam los. Bis zum Gasthof ist es noch ein weiter Weg“, sagte er und schien so die Unterhaltung fürs erste beenden zu wollen.
Da ich ohnehin nicht allzu gerne redete, akzeptierte ich dies.

Wir liefen nun also einen Waldweg entlang, und zu meiner Ãœberraschung war Tobias wie ausgewechselt. Wir drei liefen den ganzen Tag gemeinsam durch
dieses Waldgebiet, und er schien es nun nicht mehr so eilig zu haben. Er erschien mir nun auch viel freundlicher als zuvor. Seine Verletzung musste wirklich verdammt schmerzhaft gewesen sein, da war ich mir jetzt hundertprozentig sicher. Allerdings, und das mochte ich nicht allzu sehr, war er jetzt auch viel gesprächiger, als er es vorher noch war. Er schien unheimlich gerne über sich selbst zu reden.
Juhu! Ich bin mit Mister Ego unterwegs, wie toll!
Zugegeben, manche seiner Geschichten waren schon ziemlich spannend. Wie die Geschichte von Talod Hel , wo er in das Haus eines Adeligen eingestiegen war, oder die, in der er versucht hatte, den Schatz vom Fel Ashur, einem Vulkan auf einer Insel, die sich westlich des Festlandes befindet, zu finden.
Ganz besonders interessant fand ich aber die von den Krona Minen, wo er den Zwergenkriegern, die dort das abgebaute Mithril bewachten, nur knapp entkommen konnte, mit Mithril im Wert von eintausend Goldstücken in der Tasche.
Zum anderen bemerkte ich, dass er jetzt übertrieben freundlich zu mir war, jetzt war es so, dass er nicht einfach weiterging, wenn ich mal stürzte. Er wartete dann aber auch nicht, bis ich wieder aufgestanden war, sondern half mir sogar auf. Als er das das erste Mal tat, blickte ich ihn verdattert und misstrauisch zugleich an.
„Was?“, fragte er mich verwundert.
„Warum bist du auf einmal so nett?“, fragte ich ihn.
„Nun, Ihr und Eure Freundin habt mir sehr geholfen. Da ist das das mindeste, denke ich“, sagte er.
„Außerdem möchte ich mich für mein unpassendes Verhalten bei Euch entschuldigen, meine Dame“, sagte er.
„Schon gut“, sagte ich. „Du hattest sicher große Schmerzen, da reagiert jeder so“, fügte ich hinzu. Mit einem, und das war selbst für mich befremdlich, entschuldigenden Lächeln.Ich hatte in meinem Leben zuvor niemals wirklich gelächelt. Das fühlte sich seltsam an. So ungewohnt, und dennoch, es fühlte sich irgendwie gut an. Es war für mich zwar etwas Unvorstellbares, aber ich glaubte zum ersten Mal in meinem Leben daran, einen Freund gefunden zu haben.
Tobias schien ziemlich erleichtert, dass ich seine Entschuldigung anzunehmen schien, und strahlte zufrieden und erleichtert.


Karte von Ost-Leria

Nachdem wir zweieinhalb Tagesmärsche hinter uns hatten, in denen uns zum Glück weder Lebendige noch Tote angegriffen hatten, merkte ich allmählich, wie sich mein Magen langsam bemerkbar machte. Ich hatte unglaubliche Schmerzen vor Hunger, die sich von meinem Magen bis in meiner Kehle hochzogen. Dann hörte man ein unüberhörbares Magenknurren, aber es kam nicht von mir. Tobias schien ebenso großen Hunger zu haben wie ich.
Tobias, der mir am zweiten Tag unserer Reise gestanden hatte, dass er bereits seinen gesamten Proviant verspeist hatte, schien ebenso großen Hunger zu haben wie ich.
„Ich hatte ja gehofft, dass dieser Derion wenigstens etwas Proviant mit sich tragen würde, aber scheinbar hatte dieser andere Ritter den Proviant bei sich, und ihn konnte ich leider nicht mehr finden“, hatte er im Laufen zu mir gesagt.
Zu meiner Überraschung war seine Laune vor lauter Hunger jetzt nicht wieder so mies wie zuvor. Er schien sogar recht zufrieden. Was ich ziemlich merkwürdig fand.
„Dort vorne ist schon der Zuhala-Fluss“, sagte er freudestrahlend.
In der Ferne konnte ich so etwas wie das Rauschen eines Flusses vernehmen.
„Von dort aus sind es nur noch zwei bis drei Tagesmärsche. Außerdem können wir dort eine kurze Rast einlegen und etwas Fisch essen“, sagte er.
„WAS?“, fragte ich ihn.
Schön und gut, dass es von dort aus nicht mehr lange bis zum Gasthaus und somit auch endlich einem weichen Bett, anstatt des harten Waldbodens, war. Aber ich war Vegetarierin.
„Ich esse keine Tiere“, sagte ich ihm.
„Warum?“, fragte er.
„Ich will sie einfach nicht töten. Außerdem kann ich sie verstehen, da werde ich sie doch nicht aufessen!“, antwortete ich.
Das schien er zu verstehen, denn er nickte.
„Aber“, fing er an. „Was wollt Ihr denn dann essen? Hier gibt es sonst nicht viel“, sagte er.
„Dann suche ich mir eben etwas!“, gab ich trotzig zurück.
Ich drehte mich um und ging in den Wald hinein.
„Wartet!“, rief er mir hinterher.
„Ihr verlauft Euch noch!“, sagte er und begann mir zu folgen.
Ich seufzte.
Er hatte damit nicht gerade unrecht, also konnte ich leider nichts Gegenteiliges behaupten.
Also liefen wir gemeinsam durch den Wald und suchten nach etwas Essbarem. Wir wurden auch schnell fündig. Zum Glück kannte ich mich mit Pflanzen und auch mit Pilzen aus. An einer großen Kiefer fanden wir einige wenige Steinpilze. Außer diesen fand ich noch eine Krause Glucke, ein essbarer Pilz der aussieht wie ein Schwamm. Misstrauisch beäugte Tobias die Krause Glucke.
„Kann man den wirklich essen?“, fragte er mich ungläubig.
Zugegeben, wer sich nicht mit Pilzen auskennt würde ihn für einen Giftpilz halten. Ich hatte auch in meiner eigenen Welt schon häufig Leute beim Pilzesammeln gesehen, die einfach mit ihren Schuhen über sie drüber laufen, weil sie der Meinung schienen, man könne diesen Pilz sowieso nicht essen. Dabei sollte man meines Erachtens nach nicht einfach ein Lebewesen tottrampeln, auch wenn es für einen selbst nicht nützlich ist.
Jedenfalls konnte ich Tobias davon überzeugen, dass man diesen Pilz getrost essen konnte.
Also machten wir uns mit den Pilzen auf den Weg zum Fluss, wo wir uns ein Nachtlager errichteten. Die Atmosphäre des Flusses war für mich das Beste in den ganzen Tagen. Es war schon dunkel und man konnte die Reflexion der Sterne sehen, wie sie auf der Oberfläche des tosenden Wassers glitzerten und sich wie tanzende Diamanten auf derselbigen bewegen zu schienen.
Nachdem das Feuer brannte, um welches sich Tobias gekümmert hatte, was bedeutete, dass er das Feuerholz sammelte und Azur es entzündete, machte ich mich unbeholfen daran die Pilze zu braten. Tobias, der mich kurz dabei beobachtete während er die Leinentücher aus seiner Tasche zog, lachte und schüttelte den Kopf dabei. Dann nahm er mir die Pfanne und die eiserne Gabel ab.
„Ihr könnt nicht kochen, oder?“, fragte er mich.
„Nicht besonders gut“, gab ich zu.
„Das ist seltsam für eine Frau, findet Ihr nicht?“, fragte er ungläubig.
„Findest du das jetzt nicht ein bisschen sexistisch?“, fragte ich ihn zurück.
„Kann sein“, gab er beiläufig zu.
Dieser beiläufige Ton machte mich irgendwie wütend, dennoch blieb ich ruhig.
„Aber du scheinst ja ziemlich gut darin zu sein“, sagte ich zu ihm, während ich mich, an seiner statt, darum kümmerte unsere Schlafplätze vorzubereiten.
„Nun, ich lebe schon alleine seit ich ein Kind war, da lernt man so etwas irgendwann“, sagte er.
Die Pilze waren mittlerweile goldbraun und dufteten herrlich.
„Warum?“, fragte ich ihn. „Ich meine, was ist mit deinen Eltern?“ Das hätte ich wohl besser nicht gefragt.
Plötzlich veränderte sich sein Blick in eine Mischung aus Wut und Trauer.
„Tut mir leid“, sagte ich nun rasch. „Ich wollte wirklich nicht aufdringlich sein“, entschuldigte ich mich bei ihm.
Er lächelte matt.
„Schon gut, Euch trifft schließlich keine Schuld, meine Dame“, sagte er mir.
Nun schienen die Pilze gar zu sein, denn er tat sie in zwei hölzerne Schüsseln und reichte mir eine davon.
„Vielleicht erzähl ich es Euch irgendwann“, sagte er, während er mir die Schüssel inhielt.
„Was ist mit Euch?“, fragte er, während er einen Happen zu sich nahm.
„Was ist mit Euren Eltern, Ihr seid schon einige Tage hier. Sie sorgen sich sicher um Euch“, sagte er.
Trübselig blickte ich in meine Schüssel.
„Verzeiht, auch Ihr scheint darüber nichts erzählen zu wollen.“
Ich schüttelte den Kopf. „Schon okay“, sagte ich.
„Ich glaube nur nicht daran, das sie sich meinetwegen Sorgen machen. Das ist alles.“
Fragend blickte er mich an.
„Sie haben mir gesagt, dass sie froh sind mich endlich loszuwerden, danach habe ich sie nie wieder gesehen“, sagte ich.
Auch wenn ich immer gleichgültig tat, und dies war auch am Tag meines Auszuges der Fall, so haben mich ihre Worte dennoch verletzt. Selbst jetzt, ein Jahr später, taten sie noch weh.
„Verzeiht mir, ich hätte nicht fragen dürfen“, entschuldigte er sich.
„Schon gut! Mir geht es gut!“, lächelte ich mein bestes falsches Lachen.
Ich setzte es immer auf, wenn es mir unheimlich dreckig ging, damit ich nicht das Mitleid irgendeines Menschen zu spüren bekam.
„Gut“, sagte er ungläubig.
Hatte er meine Lüge durchschaut.
Hastig aß ich meine Pilze auf, und sie schmeckten wirklich großartig, so etwas Gutes hatte ich noch nie gegessen. Eines musste man Tobias lassen, er war ein großartiger Koch. Als ich mit den Pilzen fertig war eilte ich zum Fluss um meine Schüssel zu spülen, ich wollte so gut es ging eine Vertiefung unseres Gespräches vermeiden, denn ich war mir nun sicher, dass er meine Lüge durchschaut hatte.
Ich wollte sein Mitleid nicht, denn ich hasste Mitleid.
„Sabrina“, fing er an, als ich zurückkam.
„Kann das bis morgen warten?“, fragte ich ihn um dem Thema zu entgehen.
„Ich bin müde“, fügte ich nun hinzu und setzte mich auf mein Leinentuch.
„Gut, ich warte“, sagte er und nickte mir zu.
Gerettet, zumindest vorerst, dachte ich mir und legte mich hin um so zu tun als ob ich schlief, bis mich dann irgendwann echte Müdigkeit übermannen würde.
Scheinbar war meine Täuschung diesmal gut. Ich hörte ihn, mehr zu sich selbst sagend, dass es ziemlich kalt sei, und er hatte recht, ich fröstelte leicht. Nun hörte ich seine Schritte, er schien sich jetzt auch hinlegen zu wollen, denn er ging auf das andere Leinentuch zu. Doch ich hatte mich geirrt, denn dort angekommen, schien er kehrt zu machen und kam wieder zurück. Das nächste, was ich bemerkte, war,
dass er mich mit seinem Tuch zudeckte. Das war definitiv wärmer, aber was war mit ihm?
„Sie scheint ihre eigenen Sorgen zu haben. Ich sollte nicht weiter nachhaken“, flüsterte er, und es klang traurig.
Ich hasste Mitleid! Zumindest eigentlich.

Artikelbild: Cornelia Kopp (CC BY 2.0)